Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!

In dieser Aufforderung dominiert das Wort „barmherzig“ und erinnert vermutlich die meisten gleich an die Geschichte mit dem barmherzigen Samariter oder den Verzicht auf Rache bzw. Gerechtigkeit, wie es Menschen üblicherweise empfinden.

Doch schauen wir uns erst einmal den Zusammenhang in der Bibel an. Dieser Satz stammt aus einer Rede („Feldrede“) Jesu, die in den Parallelstellen der anderen Evangelien als „Bergpredigt“ bekannt ist. Der Abschnitt, worin dieser Satz vorkommt, beginnt bereits in Vers 27 mit den Ausführungen zur Feindesliebe. U.a. mit „Und wenn ihr nur diejenigen liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon?“ und endet mit Vers 42. Doch es lohnt sich, das Kapitel insgesamt zu lesen und neu auf sich wirken zu lassen. Darüber nachdenken, welche Situationen im vergangenen Jahr sich mit den im 6.Kapitel angesprochenen Punkten im eigenen Leben wiederfinden. Z.B. wo wurden nur die geliebt, die man auch geliebt hat? Wo wurde gerichtet und geurteilt, wo hat man selber als „Blinder“ anderen den Weg versucht zu zeigen? Wie oft wird der Stab über jemanden gebrochen, ohne alles vorher zu wissen und aufgrund der Unkenntnis sich selber schuldig zu machen? Wie oft wird über Gründe und Zusammenhänge hinweggesehen und die eigene Empfindlichkeit stärker als nötig gewichtet? Wo wurde jemandem Gutes getan, von denen man umgekehrt es auch erwarten konnte? Wo hat man geholfen, ohne ein „return of investment“ zu erwarten?
Würde man sich in der Nachbetrachtung des eigenen Verhaltens wieder so verhalten? Findet man für eigenes Verhalten, bei dem man sich selber in der Nachbetrachtung unwohl fühlt, gute Gründe oder Ausreden finden, um sich zu beruhigen und rechtfertigen?
Jesus beschreibt Situationen, die unter Menschen völlig normal sind: „Wie du mir, so ich dir“ oder „ich habe ein Recht darauf“.

Aber Jesus stellt diesem menschlichen Verhalten Gottes Art gegenüber. Gott zeigt sich gütig gegen den Undankbaren und Bösen und sieht darin den unglücklichen Menschen, der Gottes Barmherzigkeit nötig hat. Die natürliche Hartherzigkeit sieht im unglücklichen Menschen immer das Böse und sucht im Anderen nach dem Bösen.  

Im Matthäus-Evangelium steht zum Abschluss des parallelen Abschnitts: „So seid nun vollkommen, wie der himmlische Vater vollkommen ist“. Lukas wird hier viel praktischer und konkreter in seiner Formulierung: „Werdet barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“    

Die Aufforderung hier leitet mit einem „seid“ ein und stammt aus den verbreiteten Bibelübersetzungen. Aber manche Übersetzer und Theologen hätten diese Stelle eher mit einem „werdet“ noch genauer übersetzt. Damit wird deutlich, dass Jesu seine Zuhörer auffordert, sich auf den Weg zu machen, um barmherzig im eigenen Wesen zu werden. Wer auf dem Weg ist, wird Fehler machen und Versagen erleben. Wer Fehler macht, wird Vergebung benötigen und lernt, wie wichtig es ist, selber Vergebung zu geben. Durch diese Erfahrung besteht die Chance daraus zu lernen und eine charakterliche Weiterentwicklung zu erleben. Und zwar in einer Tiefe und Weitsicht, die für sich und andere einen Segen bringen kann.
Bei diesen Gedanken stellt sich immer mehr heraus, dass diese Bibelstelle kein harmloser frommer Satz ist. Sie ist eine echte Herausforderung. Noch einmal: Barmherzigkeit gegenüber Mitmenschen walten zu lassen bedeutet eine persönliche Veränderung der üblichen Handlungsmuster, an die man sich gewöhnt hat.

Barmherzigkeit ist eine intelligente und nachhaltige Art des Umgangs miteinander. Statt „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, womit Verletzungen untereinander entstehen, wird mit einem kooperativen Miteinander in der Summe mehr (miteinander) erreicht, als kurzfristiger persönlicher Erfolg.   
Gerade in der heutigen Zeit, in der neue Feindbilder ausgemacht werden, Unterschiede zwischen Arm und Reich sowie zwischen oben und unten scheinbar stärker werden und überwunden geglaubtes stumpfes Blockdenken auftaucht, wird die Umsetzung der Aufforderung Jesu zur Barmherzigkeit an seine Zuhörer immer schwieriger.

Der Aufruf zur Barmherzigkeit hat in der Vergangenheit zahlreiche diakonische Dienste und Organisationen begründet. Z.B. hat Friedrich von Bodelschwingh, als ein „Mann der Barmherzigkeit“, es so ausgedrückt: „Ich betrachte mich als fröhlichen Handlanger Gottes und greife zu, wo Gott mir eine Not vor die Füße legt.“ Und Pastor Bernd Siggelkow, Gründer des christlichen Kinder- und Jugendwerks „Die Arche“, schreibt in seinen Gedanken zur Jahreslosung 2021: „Barmherzigkeit ist für mich mehr, als verzweifelt zu helfen. Barmherzigkeit heißt, mit den Augen Gottes zu sehen.“

Barmherzigkeit ist kein anderes Wort für Mitleid oder Mitgefühl. Hierbei geht es um einen gelebten Glauben, der sich auch in gelebter bzw. sichtbarer Barmherzigkeit ausdrückt. Er lässt sich nicht von Hartherzigkeit oder Gleichgültigkeit entmutigen. Gelebter Glaube wirkt sich positiv aus – auf sich selbst, den Mitmenschen und verändert die Welt!

Es grüßt Sie

Munir Hanna
für das Evangeliumsnetz e.V.


Bildnachweis: PantherMediaSeller @ de.depositphotos.com / 337401810